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IX. Paris
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Meine nächste Erinnerung an Madeleine stammt aus Frankreich. Paris, einige Jahre vor der Revolution. Diesmal waren wir keine Geschwister. Nichts hinderte uns daher daran, ein Liebespaar zu werden. Und das wurden wir auch.
Nein, dies ist keines der Bücher, in denen diesbezügliche Details geschildert werden. Der geneigte Leser möge sich daher mit der Tatsache zufrieden geben, dass es phantastisch war.
Es gab nur ein Problem: Madeleine war eine Frau. Und ich auch. Paris war zwar auch damals in Liebesangelegenheiten wesentlich großzügiger als die meisten anderen, häufig von katholischer Körperfeindlichkeit oder protestantischem Puritanismus geprägten Städte, aber das war nun doch etwas in der Gesellschaft ganz und gar nicht Akzeptiertes.
Mir war das egal. Als einziges Kind wohlhabender Bürger hatte ich das Glück, finanziell unabhängig zu sein. Ich weiß nicht, ob meine Eltern nähere Einzelheiten von meinem Leben wussten, ob sie überhaupt noch lebten. Letzteres glaube ich schon, irgendwo in der Provinz vermutlich, abgeschnitten vom Treiben der Hauptstadt. Es gab jedenfalls nicht mehr viel Kontakt zu ihnen, aber auch keine Konflikte.
Aus Rücksicht auf Madeleine hielt ich unsere Beziehung geheim, in unserem Umfeld machte ich aber keinerlei Geheimnis aus der Art meiner sexuellen Orientierung.
Es lag etwas in der Luft, in dieser Zeit. Das Streben nach Veränderung, nach Freiheit kündigte sich an, lange bevor es zum gewalttätigen Ausbruch der Revolution kam. Die Autoritäten wurden zunehmend nicht mehr als Autoritäten respektiert, sondern nur noch wegen ihres Geldes und vor allem ihrer Gewehre.
Hätten die Herrschenden diese Stimmung nicht derart radikal ignoriert und jegliche Veränderungsbestrebungen beinhart unterbunden, wäre die spätere Eruption wohl nicht so heftig gewesen und manches Leid hätte vermieden werden können.
All diese Entwicklungen zogen an mir aber eher peripher vorüber, zumal man als Frau darauf ohnedies praktisch keinen Einfluss nehmen konnte. Aber ich bekam jedenfalls mit, dass das Streben nach Freiheit immer größer wurde und in meiner Naivität dachte ich, damit könnte man auch gleich der sexuellen Freiheit zum Durchbruch verhelfen.
Wahrscheinlich war Madeleines Haltung die klügere. Ohne unsere Kontakte wäre ich früher oder später wohl zumindest eingesperrt worden. Madeleine jedenfalls wollte eine untadelige Fassade bieten. Einen Mann zu heiraten, das wäre aber dann doch zu viel gewesen. Also hatte sie immer wieder Liebhaber, mal kürzer, mal länger. Das war in dieser Zeit in dieser Stadt ein sozial vollkommen adäquates Verhalten, und niemand hätte ihr irgend etwas vorgeworfen oder von ihr nicht gewünschte Gerüchte in die Welt gesetzt.
Dennoch wollten wir zusammen leben und suchten daher nach einem Weg, trotzdem den gesellschaftlichen Schein zu wahren. Zunächst kam die Idee auf, ich sollte mich als ihre Dienstmagd oder Zofe ausgeben. Selbst bloß als Rollenspiel wäre dies aber für mich viel zu demütigend gewesen und ließ sich mit meinem Stolz nicht vereinbaren.
Also wurde ich so etwas wie ihr Hauslehrer; ich glaube, man nannte es damals Gesellschaftsdame. Ich hatte mein eigenes Zimmer in ihrem Haus und es war überhaupt nichts Anstößiges dabei.
Und Madeleine war angesehen und begehrt. Sie wählte ihre Liebhaber aus, nicht etwa umgekehrt. Die Männer standen Schlange bei ihr, in der Hoffnung, irgendwann einmal vielleicht erhört zu werden. Aber das wurden die wenigsten. Das, was man die Gesellschaft nannte, ging bei uns ein und aus. Über ein Jahrhundert später hätte man uns wohl Bohémien genannt, aber diesen Begriff gab es damals noch nicht. Jedenfalls drängte sich alle Welt darum, bei uns eingeladen zu werden, und nicht zuletzt deshalb bekam ich auch einiges mit von der Stimmung im Lande.
Es war kein Adelspalast, in dem wir lebten, aber die Adeligen kamen genauso gerne in unser Haus, wie die so genannten gewöhnlichen Menschen. Aus allen Schichten nur die Jüngeren natürlich. Bei den Älteren wurden selbstverständlich heftigst die Nasen gerümpft ob dieser äußerst unschicklichen Kontakte.
Natürlich hatte ich Probleme mit Madeleines Liebesleben. Zu einem Gutteil war wohl auch Eifersucht dabei. Ich spürte aber auch, dass ihr selbst das überhaupt nicht gut tat.
Ich kannte sie gut genug, um ihre Geräusche interpretieren zu können. Und in meinen Gemächern hörte ich sie alle. Anfangs machten ihr die diversen Männer durchwegs wirklich Vergnügen, mehr oder weniger kurze Zeit. In dieser Zeit verlief stets auch unser gemeinsames Liebesleben spannend und aufregend, es herrschte einfach eine erotisch aufgeladene Atmosphäre.
In der Folge wurden ihr die Männer allmählich langweilig im Bett, sie schätzte aber doch noch ihre Gesellschaft und den Status als deren Liebhaberin, sodass sie auch die nächtlichen Zudringlichkeiten mit mehr oder weniger Gleichmut ertrug. Letztlich aber ekelten sie alle an, es verging aber immer noch geraume Zeit, bis sie sich das selbst eingestand und die entsprechenden Konsequenzen daraus zog. Am Ausmaß und der Intensität ihrer vorgetäuschten Lustschreie konnte ich jedenfalls das Ende ihrer jeweiligen Affären mit ziemlicher Exaktheit vorhersehen, lange bevor sie selbst daran auch nur dachte. In diesen Zeiten wollte sie sich dann aber auch von mir nicht trösten und verwöhnen lassen, sondern überhaupt keine sexuellen Kontakte haben, was mir wiederum reichlich Kummer bereitete und Anlass für zahlreiche Streitigkeiten war.
Wenn sie es dann endlich wieder einmal geschafft hatte, sich von ihrem Liebhaber zu lösen, machten wir meistens längere Zeit Urlaub - auch wenn man es damals definitiv noch nicht so nannte, oft für mehrere Monate und am liebsten aus meiner Sicht an der Atlantikküste, nach ihren Präferenzen jedoch in den Pyrenäen. Dort fanden wir dann wieder richtig zueinander, versprachen uns, es fortan besser zu machen und wenn wir heimkehrten, ging früher oder später das gleiche Spiel von vorne los.
Dann kann die Revolution. Die Tatsache überraschte uns aus den genannten Gründen nicht, wohl aber das Ausmaß der Gewalttätigkeiten. Unmittelbar betraf es uns zwar nicht, wir hatten ja beste Kontakte zu allen Kreisen gehabt, aber viele unserer Freunde und Bekannten fanden plötzlich ihre Köpfe von ihren Rümpfen abgetrennt, womit dieses Leben für sie beendet war.
Trotz dieser Scheußlichkeiten war ich anfangs euphorisch. Ich war mir absolut gewiss, dass jetzt endlich auch sich liebende Frauen (bei Männern war dies damals schon weit weniger Skandal, solange sie sich nicht in der Öffentlichkeit "unmöglich" verhielten) als Selbstverständlichkeit angesehen würden, und die Zeit, in der wir um jeden Preis zu allererst den Schein wahren mussten, jetzt endlich vorbei sein würde.
Nicht nur was die sonst erhoffte Freiheit - die letztlich nur zu unermesslicher Gewalt, Plünderungen, Hunger, Not, Krieg und neuen Herrschern führte - betraf, irrte ich, sondern auch in dieser Hinsicht. Es blieb im wesentlichen alles beim Alten. Zwar war ich ob meiner deklarierten Orientierung jetzt nicht mehr mit Gefängnis, Folter oder Tod bedroht, auf Verständnis stieß ich aber auch in keiner Weise.
Auch die neuen Herrscher, zunächst Jakobiner, dann diese, dann jene und schließlich die Bonapartisten, gingen bei uns aus und ein. Madeleines wechselnde Gefährten stammten halt jetzt aus diesen Kreisen und nicht wenige dieser ach so fortschrittlichen Herrschaften versuchten, trotz meiner deklarierten Ablehnung bei mir zu landen.
Ja, hörte ich immer wieder, bei einer Frau, die so hässlich wäre, dass sie keinen Mann abbekäme, würde man es ja verstehen, dass sie sich mit einer anderen Frau tröste. Aber freiwillig auf die Freuden zu verzichten, die ihr bestes Stück einem bieten könne, das konnten sie einfach nicht glauben und hinnehmen. Das verletzte ihre Eitelkeit so sehr, dass ein oder zwei von ihnen mir sogar Gewalt antaten, um mich von den Segnungen ihrer körperlichen Ausstattung zu überzeugen.
Es tat nicht wirklich weh, es war vielmehr nur überwältigend ekelig. Ähnlich dem Ekel, der einen überkommt, wenn sich einem Leute körperlich zu sehr annähern, von denen man dies nicht will (wie etwa jene Autoverkäufer oder Versicherungskeiler, die einem vorsätzlich den Eindruck vermitteln, nur durch eine voreilige Unterschrift würde man ihre widerliche Nähe rasch wieder los werden), nur um ein Vielfaches potenziert - also wirklich grauslich.
Ich hatte auch ziemlich schnell begriffen, dass es keinerlei Sinn machen würde, mich weiter körperlich zu wehren. Also ließ ich es über mich ergehen und half mir mit der Vorstellung, dass ich eine besonders giftige Pflanze wäre und jede ihrer widerlichen Berührungen und Bewegungen sie noch mehr vergiften und ihnen ihre erbärmliche Lebensenergie rauben würde.
Wenn ich ihnen danach sagte, dass sie leider nicht fähig wären, bei einer wirklichen Frau wie mir schöne Empfindungen hervorzurufen, zogen sie schlechten Gewissens von dannen. Nach dem zweiten Mal hatte ich aber derart genug von dieser Krone der Schöpfung, dass ich keinen anderen Ausweg mehr sah, als auf zugegeben drastische Weise Abhilfe zu schaffen:
Madeleines damaliger Liebhaber war ein Herr der alten Schule, trotz seines blauen Blutes hatte er es irgendwie geschafft, den Wirrnissen zu entkommen und jetzt als neuer Herr zu gelten. Selbstverständlichkeiten waren es daher für ihn zum einen, dass er mit Kulturgütern wie dem Degen bestens vertraut war, und zum anderen, dass die Ehre einer Frau beschützt werden musste.
Mein Gewalttäter hingegen war ein ungebildeter Emporkömmling, der gerade einmal die Spitze eines Degens vom Griff unterscheiden konnte. Ich brauchte also nur dafür zu sorgen, dass Henry (so hieß der Liebhaber überraschenderweise, obwohl er kein Engländer war) von dieser peinlichen Geschichte erfuhr, und prompt forderte er Jacques - den Penis vernarrten Parvenu - zum Duell. Den Ausgang kann man sich vorstellen.
Ich hatte durchaus Gewissensbisse wegen dieser Entwicklung. Aber eine funktionierende Strafrechtspflege (außerhalb der Verfolgung politischer Delikte) gab es damals nicht, und schon gar nicht gegen Repräsentanten der neuen herrschenden Schicht. Es ging mir auch weniger um Rache, auch wenn ich den Verlauf des Duells durchaus mit einigen Lustgefühlen verfolgte. (Aus heutiger Sicht betrachtet, hatte es gewisse Ähnlichkeit mit einem spanischen Stierkampf: Henry provozierte Jacques, stichelte, lockte ihn hervor, ließ ihn anrennen, stach zunächst mal da und mal dort eher sanft zu; ritzen, um noch mehr zu reizen, ohne aber das Vergnügen des Kampfes zu schnell zu beenden. So verging geraume Zeit bis zum unvermeidlichen Ende, vor welchem Jacques auch noch seine Männlichkeit einbüßte.)
Letztlich aber wollte ich - und das war auch meine moralische Rechtfertigung - die Wiederholung derartiger Vorfälle für die Zukunft ausschließen. Und diese Rechnung ging auf. Die Geschichte sprach sich herum und man behandelte mich fortan mit dem gebotenen Respekt.
Ich glaube fast, ich bekam auch ein Kind von diesem Vorfall. Ich verdrängte seinen Vater, was es mir später wohl mit Recht vorgehalten hatte, und wir zogen es mit großer Liebe auf. In der großen Welt ereigneten sich noch viele Turbulenzen, wir aber lebten in der gewohnten Weise weiter. Mit den Jahren ließ auch das Interesse der Männer an Madeleine nach, es war dann nicht weiter Aufsehen erregend, dass sie "alleine" lebte und letztendlich konnten wir ganz miteinander und für einander leben.
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